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Friede oder Atomkrieg

Albert Schweitzers Engagement gegen die Atombomben

Zum ersten Male äusserte Albert Schweitzer seine Besorgnisse über den Gebrauch von Atombomben in einem Brief, der am 14. April 1954 im „Daily Herald“ in London erschien. Nur eine deutsche Zeitung wagte, den damals aufsehenerregenden Brief im vollen Wortlaut zu übernehmen.

In seiner Rede anlässlich der Übergabe des Friedensnobelpreises vom 4. November 1954 in Oslo, äusserte sich Schweitzer ein weiteres Mal zur Gefahr der Atombomben.

Von vielen Freunden und bekannten Wissenschaftlern, darunter dem am 18. April 1955 verstorbenen Albert Einstein, wurde Schweitzer immer mehr gedrängt, öffentlich gegen die Atombombe und die Atomtests zu protestieren. Namhafte Wissenschaftler waren der Meinung, dass das Renommee Schweitzers helfen könnte, die Weltöffentlichkeit auf das Problem der nuklearen Verseuchung und der davon ausgehenden Gefahr für die Menschen aufmerksam zu machen.

Schweitzer selber fühlte sich dazu nicht berufen. Zudem weigerte er sich, zu politischen Problemen Stellung zu nehmen und für einzelne Seiten Partei zu ergreifen. Doch seit Beginn der ersten Wasserstoffbombentests 1954, begann sich Schweitzer intensiv mit den wissenschaftlichen und politischen Aspekten der atomaren Tests und Bewaffnung auseinanderzusetzen. Robert Jungk schrieb dazu: “Fast jeder, der in den Jahren zwischen 1954 und 1957 mit Albert Schweitzer privat zusammentraf, wurde von ihm intensiv über die ‘Atomgefahr’ ausgefragt”.

Anfangs Januar 1957 besuchte ihn der bekannte Publizist Norman Cousins zusammen mit der Fotografin Clara Urquhart in Lambarene. Den beiden gelang es, Schweitzer von der Notwendigkeit zu überzeugen, dass er sich für den Kampf gegen die Atombombe einsetzen müsse. Er äusserte Bedenken hinsichtlich seiner Kompetenz in der Atomfrage und zweifelte ernsthaft, ob eine Äusserung von ihm irgendeinen Einfluss haben könnte.

Darauf schrieb Schweitzer einen Brief an den amerikanischen Präsidenten Dwight Eisenhower: „… Wir teilen beide die Überzeugung, dass die Menschheit einen Weg finden muss, um die Waffen zu kontrollieren, die das Leben auf der Welt bedrohen. … ich hoffe, dass es uns beiden vergönnt sein wird, den Tag zu erleben, an dem die Leute auf der Welt erkennen werden, dass das Schicksal der ganzen Menschheit aufs Spiel gesetzt wird und dass es dringend notwendig ist, eine klare Entscheidung zu treffen, welche angemessen mit der quälenden Situation umgehen kann, in der die Welt sich zur Zeit selber befindet. “

Am 23. April 1957 liess Schweitzer über Radio Oslo seinen „Appell an die Menschheit“ verbreiten. Der Aufruf wurde von etwa 140 weiteren Radiostationen übernommen. Vielen Sendern – im Osten wie im Westen – wurde dies allerdings verboten.

Schweitzer suchte immer mehr Material über die Atomwaffen zusammen und korrespondierte mit bekannten Wissenschaftlern und Freunden, wie Bertrand Russell, Pablo Casals, Norman Cousins.

Am 14. Januar 1958, dem 83. Geburtstag von Schweitzer, übergab der Chemiker und Nobelpreisträger Linus Pauling der UNO in New York eine von 9236 Wissenschaftlern, darunter auch von Schweitzer, unterschriebene Resolution, mit der Forderung, einen Atomteststopp-Vertrag zu veranlassen.

In der Zwischenzeit hatte Schweitzer drei weitere Appelle vorbereitet, deren Manuskripte von Gunnar Jahn, dem Präsidenten des norwegischen Nobelpreiskomitees, vorgelesen wurden. Die Radioausstrahlungen fanden am 28., 29. und 30. April 1958 über Radio Oslo statt und fanden weltweit ein grosses Echo:

„Verzicht auf Versuchsexplosionen“,  „Die Gefahr eines Atomkrieges“,  „Verhandlungen auf höchster Ebene“.

Die drei Reden erschienen im selben Jahr im Verlag C. H. Beck in München unter dem Titel „Friede oder Atomkrieg“ und wurden auch in unzähligen andern Sprachen veröffentlicht.


Schweitzer wurde von vielen Zeitungen, Regierungen aber auch Freunden aufs schärfste angegriffen. Die “Neue Zürcher Zeitung” schrieb am 10. September 1958 unter dem Titel “Seltsamer Albert Schweitzer”: “Der verehrte Name Albert Schweitzers darf nicht davon abhalten, festzustellen, dass dieses Dokument politisch und philosophisch, militärisch und theologisch wertlos ist. Das Wagnis, das er dem Westen zumutet, ist an sich schon ungeheuerlich. Das Urteil über Amerika und die Sowjetunion anderseits macht es vollends unmöglich, Albert Schweitzers Rat ernsthaft in Erwägung zu ziehen.”

Auf eine Ankündigung der UdSSR sagten auch die Amerikaner und Engländer zu, dass sie die Atomtests auf den 31. Oktober 1958 stoppen würden. Als die drei über Atombomben verfügenden Staaten mit den Tests aufhörten, führten die Franzosen am 13. Februar 1960 in der Sahara ihren ersten Atomtest durch, um auch eine Atommacht zu werden.

Das Teststopp-Moratorium hielt 34 Monate, und dann begannen die Russen im August 1961 mit neuen Tests, so dass sich auch die Amerikaner nicht mehr an das Moratorium gebunden fühlten. Eine Protestwelle brach los, allen voran meldete sich Linus Pauling am 31. August mit einer Presseerklärung.

Am 20. April 1962 schrieb Schweitzer Präsident Kennedy einen Brief als „einem, der sich selber während langer Zeit mit dem Problem der Atomwaffen und dem Problem des Friedens auseinandergesetzt habe“. Er vertrat die Meinung, „dass Abrüstung unter einer wirkungsvollen internationalen Kontrolle“ das wichtigste Ziel und die dahingehenden Bemühungen nicht „… abhängig von unnötigen Appellen zu internationalen Überprüfungen der Nichtweiterführung der Tests“ gemacht werden sollen. Dann hatte er den Mut, den Präsidenten auf etwas aufmerksam zu machen, „das auch Sie selber betrifft“,  die Auswirkungen der radioaktiven Strahlung auf das menschliche Erbgut. Er schloss den Brief mit dem Satz: „Es war für mich nicht leicht, Ihre Aufmerksamkeit auf die grosse Verantwortung zu ziehen, die Sie gegenüber künftigen Generationen haben. Bitte, vergeben Sie mir; Ich konnte nicht anders handeln, nicht nur der Menschheit zuliebe, sondern auch aus Überlegungen Ihnen gegenüber.

Zu Ostern 1962 veröffentlichte “Das Gewissen” in München den ersten grossen gemeinsamen Aufruf von internationalen Atomgegnern gegen die neuerlichen Tests in Ost und West.

Die aufkommende Kubakrise im Oktober 1962 verunsicherte die ganze Welt. Mitten in der Krise schrieb Schweitzer an Norman Cousins, „dass die Zeit für diejenigen arbeitet, die die Atomwaffen abschaffen wollen“. Als er vernahm, dass die Amerikaner eventuell die Atombomben zur Lösung der Krise einsetzen könnten, verfasste er einen offenen Brief an den amerikanischen Verteidigungsminister McNamara. Er ersuchte Cousins, in Amerika eine Zeitung zu suchen, die den Brief veröffentlichen würde. Nachdem die Krise vorbei war, fand Cousins, dass die Taktik zu ändern sei und der offene Brief gegen den Verteidigungsminister nicht das richtige Mittel sei. Schweitzer insistierte: „Wir können nicht aufhören, McNamara aufs schärfste öffentlich zu kritisieren, dass er angekündigt hat, dass er Atombomben benützen würde“.

Teil Atomteststopp-Vertrag

Eine neue Abrüstungskommission der UNO begann im März 1962 mit den Vorbereitungen zu einem Atomteststopp-Abkommen. Präsident Kennedy gab in einer Rede am 10. Juni 1963 bekannt, dass die USA alle Atomtests stoppen würden, und dass Premierminister Chruschtschow zugestimmt hatte, die Verhandlungen für ein Teststopp-Abkommen zu intensivieren. Die Verhandlungen begannen am 15. Juli in Moskau und fanden am 25. Juli mit einem Teilstopp-Abkommen ihren Abschluss. Es verbot alle Kernwaffenversuche in der Atmosphäre und unter Wasser mit Ausnahme der unterirdischen Versuche. Der Vertrag wurde am 5. August in Moskau unterzeichnet und trat am 10. Oktober 1963 in Kraft.

Schweitzer schrieb an Präsident John F. Kennedy:
«Ich schreibe Ihnen, um Sie zu beglückwünschen und Ihnen zu danken, dass Sie den Weitblick und Mut besassen, eine Politik zum Weltfrieden einzuleiten. Endlich wird ein Lichtstrahl in der Dunkelheit sichtbar, in der die Menschheit ihren Weg suchte, und gibt uns die Hoffnung, dass die Dunkelheit dem Licht weichen wird.
Der Vertrag zwischen dem Osten und dem Westen über den Verzicht auf Kernwaffenversuche in der Atmosphäre und unter Wasser ist eines der grössten, vielleicht das grösste Ereignis in der Weltgeschichte. Es gibt uns die Hoffnung, dass der Krieg mit Atomwaffen zwischen Ost und West vermieden werden kann.
Als ich von dem Moskauer Vertrag hörte, dachte ich an meinen Freund Einstein, mit dem ich im Kampf gegen die Atomwaffen verbunden war. Er starb in Princeton in Verzweiflung.
Und ich bin in der Lage zu beobachten, dass – dank Ihres Weitblicks und Mutes – die Welt den ersten Schritt auf dem Wege zum Frieden getan hat. Nehmen Sie, Herr Präsident, die Versicherung meiner vorzüglichen Hochachtung an, Ihr ergebener Albert Schweitzer.»

Ende 1964 besprach Albert Schweitzer in Lambarene eine Schallplatte unter dem Titel “Mein Wort an die Menschen”. Er fasste den Inhalt seines Lebens und seiner “Ehrfurcht vor dem Leben” zusammen. Gleichzeitig erneuerte er seine Appelle von Oslo gegen das Wettrüsten und die Atomwaffen.

Bis zum Tode von Albert Schweitzer Ende 1965 wurden total 646 Kernwaffenversuche durch fünf Staaten durchgeführt, 403 durch die USA, 200 durch die UdSSR, 25 durch Grossbritannien, 16 durch Frankreich und zwei durch China. Bis Ende 1986 wurden weltweit 1662 Atomexplosionen durch sechs Länder (inklusive Indien) bekannt. Die Zahl der Atomwaffen wird auf mindestens 50’000 geschätzt.

Wo stehen wir heute?

Nach einem langen Unterbruch nahm Frankreich seine unterirdischen Atomversuche auf dem Mururoa-Atoll im Jahre 1995 wieder auf. Viele Organisationen, darunter auch die AISL, protestierten und forderten den französischen Staatspräsidenten Chirac in offenen Briefen auf, die Versuche sofort abzubrechen. Weitere Proteste galten China, das in dieser Zeit auch Atomwaffentests durchführte.

Die „Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges” (International Physicians for the Prevention of Nuclear War, IPPNW) setzen sich seit ihrer Gründung 1980, ganz im Sinne von Albert Schweitzers „Ehrfurcht vor dem Leben”, für die Verhinderung eines Atomkrieges ein. Für ihre Arbeit erhielten sie 1984 den UNESCO-Friedenspreis und 1985 den Friedensnobelpreis.